Kirche: Haben oder Sein?

Symbol Notre Dame

Ist der Kirchenbrand und Beinahezusammenbruch von Notre symbolisch deutbar oder gar ein Vorbote? Wenn ja, was könnte sich hierin ankündigen?
Es gibt Ereignisse, die im Rückblick als Auftakt eines Untergangs und als drohende Vorboten einer neuen Zeit gedeutet werden, während sie zugleich Denkmal einer sich dem Ende neigenden Epoche sind.

So ist es mit der Titanic, die schon im Namen die gigantische Vermessenheit des technikbesessenen homo fabers anzeigt und mit deren Untergang die Hoffnung des industriellen Zeitalters Schiffbruch erlitt, mit der geradlinige fortschreitenden Evolution der Technik auch den Schlüssel zur Lösung aller menschlichen Probleme in die Hand zu bekommen.

Das Sinken der Titanic gleich zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde zudem nachträglich als Prophezeiung verstanden, dass der einmal aus der Flasche gelassene Erfindergeist sich gegen seinen Schöpfer und das Leben überhaupt wenden und in Weltkriegen mit ungekannten Dimensionen technischer Vernichtungskraft entladen würde.

Für Ähnliches steht der Name Tschernobyl, doch hier ging die Gefahr nicht vom Gewitter glänzenden Stahls aus, sondern von der ungleich gewaltigeren Wucht des unsichtbaren Atoms.

Dem Vergehen der berühmtesten New Yorker Immobilie der Twintowers zu Beginn des Millenniums vor den Augen des erstarrten Zuschauers folgte schon bald der Zusammenbruch der Finanzmärkte nach dem Platzen einer Immobilienblase, wodurch der Mittelstand die Vorsorge seiner Zukunft verlor.

Notre Dame – Unsere liebe Frau von Welt

Aus der Asche des verkohlten und eingebrochenen Dachstuhls von Notre Dames den Zusammenbruch des christlichen Abendlandes insgesamt zu lesen, verbietet sich, da die Lage offensichtlich komplexer ist, schon allein deshalb, weil auch das christliche Abendland eine Landschaft aus unterschiedlichen Regionen ist.

Denn in Frankreich sind die Kirchen als Gebäude im Grunde staatliche Museen, und dies bereits seit der Französischen Revolution.
Doch in den Ruinen blüht es, und neues geistliches Leben wächst heran. Um nur drei Beispiele zu nennen: die Gemeinschaft von Bethlehem (von 1950), die ökumenische Gemeinschaft von Taizé (gegr. 1942) und die Gemeinschaft von Jerusalem (gegr. 1975).
Es fällt zunächst auf, dass alle drei recht jungen Bewegungen sich eines großen Zulaufs erfreuen und dabei auf etablierte Bezeichnungen wie Orden, Bruderschaft oder Institut verzichten, sondern sich bescheiden „Gemeinschaft“ nennen.

Das Christentum ist im laizistischen Frankreich also keineswegs tot, sondern in seinem gesellschaftlichen Nischendasein höchst lebendig. Die Teilnahme am Gottesdienst ist in Frankreich nur minimal geringer verglichen mit Deutschland, dessen Kirchen vergleichsweise vor Finanzkraft strotzen, ohne jedoch ähnliche Regungen vorweisen zu können.

Diesem ihrem Reichtum ist den Kirchen in Deutschland freilich auch die Sorge um ihre Kirchen als Gebäude aufgetragen ist und um sich selbst als Organisation, als KödR – als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“.
Diese schon seit der Weimarer Reichsverfassung (Art. 137) verankerte und ins Grundgesetz (Art. 140) überführte Sicht der Kirchen als quasi sinnstiftender und karitativer verlängerter Arm des neutralen Staats bei der Bildung und Erhaltung eines Wertekanons macht sie durch ihre enorme Privilegierung zu einer Art Staat im Staat, der nicht nur Steuern einziehen kann, sondern auch neben Steuerbefreiungen, Siegelrecht, eigenem Arbeitsrecht, eigenen Schulen, Religionsunterricht an staatlichen Schulen u.a. Staatsleistungen mit Ewigkeitsrecht als Kompensationen für unter Napoleon verstaatlichen Kirchenbesitz genießt.

Wie sehr die KödR die deutschen Kirchen in ihrem Bestand schützt, zeigte kürzlich der Fall der „Rue Daru“ in Paris, in der das „Exarchat der orthodoxen Gemeinden russischer Tradition in Westeuropa“ seine Heimat hat. Oder hatte, muss man fast sagen, denn seit ihr der Phanar seine Fittiche in Form des Tomos entzogen hat, ist diese Kirche als Exarchat (als orthodoxes Erzbistum) quasi vogelfrei: Ohne Schutz droht es zur potentiellen Beute eines imperial-expansionistischen Patriarchats zu werden, das mit der anachronistischen Behauptung auftritt, seine Gläubigen aus der Zerstreuung heimholen zu müssen – so stellen es zumindest Kritiker dar. Einzig ein dürres, aber offenbar effektives und klugerweise von den Gründern niedergelegtes Vereinsrecht garantiert das ungewisse Fortbestehen des Erzbistums als Institution.

Woran das Christentum krankt

Doch zurück zum verkohlten Notre Dame. Damit es als Symbol eines degenerierten Christentums taugt, ist zunächst zu fragen, woran denn der Patient Christentum eigentlich krankt?
Dabei wird doch das Christentum unausgesprochen mit Kirchesein gleichgesetzt – und dies zu Recht. Denn Christen suchen per definitionem die Gemeinschaft, schon allein, um dem letzten und in seiner Bedeutung ersten Auftrag Jesu im Plural gerecht zu werden: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ (Lk 22,19; 1 Kor 11,24), woraus sich letztlich die cura animarum – die Seelsorge – mit der Sorge um alle weiteren Sakramente ableitet.

Ein vereinzeltes Christentum, ein unverbindliches Single-Christentum sozusagen, grenzt dagegen an Esoterik und wird diese Grenz zwangsläufig überschreiten. Die Diagnose lautet dagegen, dass das Christentum an Apathie, mangelnder geistlicher Bewegung und fehlendem Wissen um seine psychologische wie theologische Seelenhygiene krankt.

Fangen wir mit dem Letztgenannten an. Es geht um weitaus mehr als das, was von staats- bzw. verfassungsrechtlicher Seite der Jurist und Rechtsphilosoph Böckenförde in seinem berühmten Diktum umrissen hat: Dass der freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren bzw. erschaffen könne.
Dazu gehören zum einem scheinbar simple Tugenden wie Respekt, Anstand, Ehrlichkeit, Rücksicht u.a., doch zum anderen auch anspruchsvollere wie Wahrhaftigkeit, Sittlichkeit, Treue, Ehrfurcht und – besonders – Gewissen, das aus Konventionen erst Tugenden macht.

Das alles ist doch ein schwacher Nachhall dessen, was einst glauben bedeutet, nämlich „Glaube – Liebe – Hoffnung: diese drei“ (1 Kor 13,3).

Wir sind hoffnungslos, wenn wir so leben, als ob es kein morgen gäbe für uns und andere. Diesen Zynismus bloßzustellen, mag als die erste ethische Leistung solcher ökologischer Jugendbewegungen wie „Fridays for Future“ gelten, da Ökologie zukünftig ausblickt, obwohl zugleich hier und heute Maßnahmen und Haltungen gefordert sind.
Vor allem fehlt uns die christliche Hoffnung auf eine Fortsetzung der Geschichte in der Ewigkeit der Anschauung Gottes.

Wir sind lieblos. Nicht ohne Sentimentalität, aber ohne die christliche Liebe, die im Gott im Nächsten erkennt. Die haben wir an die Caritas delegiert. Der Nächste ertrinkt im Mittelmeer. Phantasievolle Lösungsvorschläge, um das zu verhindern, gibt es nur wenig.

Wir sind gottlos. Wir glauben als scheinbar allmächtige Prothesengötter alles zu vermögen und tun zu dürfen, ja, auch alles tun zu müssen, was getan werden kann. Dabei löst sich die Pragmatik von der Ethik und die Ethik von Glauben. Doch auch dieser ambivalente Anspruch des Alleskönnens hat spätestens im 20. Jahrhundert Schiffbruch erlitten, wie eingangs beschrieben. Und dennoch wird der ökonomische Druck immer größer, auch im Bereich der Gentechnik alles abzusegnen, was machbar ist.

Zugleich sind wir deistisch, oft auch als Christen: wir hängen der apathische Hoffnung an, dass es der verreiste Gott schon richten wird.
Und speziell in Deutschland weinen wir dazu einer institutionell aufgeblähten Körperschaftskirche nach, die sich vor Kraft nicht bewegen kann, weil sie kaum einer mehr trägt. Herrscht daher in den deutschen Kirchen geistliche Windstille, während sie an den Orten lebendig ist, wo kein Finanzkorsett sie stützt?

Wenn der Brand von Notre Dame ein Symbol für etwas ist, dann dafür: Aus den Trümmern einer zerfallenden Kirche ragte das goldleuchtende Kreuz über dem Hochaltar heraus. Gott ist gestern, heute und in Ewigkeit derselbe (vgl. Hebr 13,8).
Es braucht bloß einen Altar, vor dem sich die Gemeinde versammelt. Kathedralen und Kirchen aus Stein und Gold sind schön, würdig und recht – aber zum Glauben braucht es beides nicht, sondern um den Eckstein herum, den die Bauleute verwarfen (vgl. Ps 118,22 in Mt 21,42), braucht es allein eine lebendige Gemeinschaft von Gläubigen, die ist, was sie empfängt: Leib Christi. © RB

Anm. d. Red.: Ein auf dieser Website veröffentlichter Beitrag gibt nicht unbedingt die Meinung der gesamten Redaktion wieder, um auch kontroverse Diskussionen anzustoßen. Leserbriefe sind willkommen.

Mehr zu der Thematik z. B. unter: „Es war kein Unfall und kein Anschlag“ (FAZ vom 10.06.19)