„Weiter als die Himmel“

Gottesgebärerin vom Zeichen: Kiewer Schule, Jaroslawl, 13. Jh.

Die Ikone der „Mutter Gottes des Zeichens“

Ein Beitrag zu Advent und Weihnachten

„Siehe, genaht hat sich die Zeit unserer Erlösung. Höhle, halte dich bereit, die Jungfrau naht sich, um zu gebären. Freue dich und frohlocke, Bethlehem, Land Juda, denn aus dir ist hervorgegangen unser Herr. Höret, ihr Berge und Hügel, und du, Judäas Umgebung, denn es kommt Christus, um uns zu retten, den Menschen, den er hat gebildet, als der Menschenliebende.“

(Minäon vom 20. Dezember, Vorfeier der Geburt Christi)

Liebe Schwestern und Brüder!

„Die Jungfrau naht sich, um zu gebären.“ Die Ikone der „Mutter Gottes des Zeichens“ ist eine Ikone, die Jesus vor der Geburt zeigt. Man könnte sie auch als adventliche Ikone bezeichnen. Deshalb einige Gedanken zu dieser Ikone.

Eine Ikone mit vielen Titeln

Wir sehen die Mutter Gottes vor uns in Orantenhaltung. Sie betet. Auf ihrer Brust trägt sie gleich einem Brustschild die Ikone des Gottes Emmanuel. Er segnet uns und hält eine Schriftrolle in der Hand. Sie steht für die Hl. Schrift. Sein Bild ist pränatal zu verstehen. Wir sehen Jesus vor der Geburt. Maria trägt ihn unter ihrem Herzen. Wir werden daran erinnert, dass Maria Gott empfangen hat. Er wohnt in ihrem Schoß. Gewöhnlich lautet der Titel dieser Ikone „Mutter Gottes des Zeichens“. Ihre erste Überschrift ist ganz einfach: Dei genitrix orans, die betende Gottesmutter. Bereits in der Priscillakatakome in Rom finden wir die Darstellung einer Frau mit erhobenen Händen. Es wird wohl die Verstorbene sein, die hier beigesetzt wurde. Die Heiligen und Martyrer erheben ihre Hände zu Gott. Im vierten und fünften Jahrhundert wird dieser Typus auf die Mutter Gottes übertragen. Sie betet und bittet für uns.

Aus dem Leben und Zeremoniell des Kaiserhofes in Konstantinopel wurde Brauchtum für die Feier der Göttlichen Liturgie entnommen und übertragen. Auch der Brauch, das Signum um den Hals zu tragen, stammt vom Kaiserhof. Die Kaiserin und die Hofbeamten trugen gerne ein Bildnis des jeweiligen Kaisers um den Hals, vielleicht einer Münze ähnlich, die ja oft mit dem Bild des Herrschers geprägt wurde. Sie zeigten so ihre Verbundenheit und Loyalität dem Kaiser gegenüber. Die Mutter Gottes wird geschmückt mit dem Bild ihres Sohnes, des himmlischen Herrschers. In Byzanz heißt die Ikone „Platytera“ — ein Komparativ, zu deutsch: „weiter“. Das Wort ist der Basiliusliturgie entnommen.

Basiliusliturgie und Magnifikat

„An dir, du Begnadete, freut sich alle Schöpfung, der Engel Schar und der Menschengeschlecht, du geheiligter Tempel, du geistiges Paradies und jungfräulicher Ruhm, aus welcher Gott ward Fleisch, ja, der unser Gott ist vor Ewigkeit, ein Kindlein. Denn zum Thron machte er deinen Schoß und deinen Mutterleib weiter als die Himmel. An dir du Begnadete, freut sich alle Schöpfung, Ehre sei dir.“

(aus dem Eucharistiegebet der Basiliusliturgie)

Er, den die Himmel nicht zu fassen mögen, birgt sich im Schoß seiner Mutter. Bisher umgaben die Engel den Thron Gottes. Niemand war Gott näher als die Engel. Auch auf unserer Ikone finden sich rechts und links oft Engeldarstellungen der Cherubim. Jetzt ist ein Mensch Gott näher als die Engel es je waren. Der Mensch Maria umschließt ihn körperlich. Deshalb singen wir:

„Geehrter als die Cherubim und unvergleichlich herrlicher als die Seraphim, unversehrt hast du Gott den Logos geboren, dich wahrhaft Gottesgebärerin, preisen wir hoch.“

„Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist frohlockt über Gott meinen Heiland. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut, siehe von nun an preisen mich selig alle Geschlechter (…). Denn der Mächtige hat Großes an mir getan und sein Name ist heilig.“

Am Ende des byzantinischen Morgengebetes wird stets das Magnificat mit dem oben genannten Kehrvers gesungen. Maria trägt das Zeichen des Menschensohnes auf ihrer Brust. Ihr Heiligenbild wird zur Ikone der „Mutter Gottes des Zeichens“. Es erfüllt sich was der Prophet Jesaja verheißen hat:

„Hört, ihr vom Hause Davids! Ist es euch nicht genug, Menschen zu ermüden, dass ihr auch meinen Gott ermüdet! Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Seht die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären und seinen Namen Emmanuel nennen. Von Dickmilch und Honig wird er sich nähren, bis er versteht, das Böse zu verwerfen und das Gute zu erwählen (…)“. (Jes 7,13ff)

Die Ikone kommt zu den Slawen

Mutter Gottes des Zeichens“ – znamenije wird die Ikone in den (ost)slawischen Sprachen genannt. Eine Erzählung machte sie populär. Ein frühes Bildnis dieses Typus findet sich im Blachernenpalast in Konstantinopel, die Gottesmutter Blachernitissa. Byzantinische Missionare brachten eine Ikone dieses Sujets nach Nowgorod. Nowgorod wurde 1170 von Susdal angegriffen. Die Ikone wurde, wie es in Konstantinopel Brauch war, auf die Stadtmauer gebracht. Susdal interessierte es nicht und schoss weiter viele Pfeile ab. Die Ikone wurde getroffen. Die Mutter Gottes weinte und die Ikone drehte sich. Sie wendete sich ab. Schließlich wurde Nowgorod nicht vernichtet. Jeder Krieg ist ein Unding und kann nicht mit Religion begründet werden. Gott wendet sich ab. Er verbirgt sich.

Wir lobpreisen Dich, Lebensspender Christus

Die Mutter Gottes und alle, die mit ihr die Hände zum Himmel erheben und auf Gott harren, der uns entgegen kommt und sich unser annimmt, strecken ihre Hände nach göttlichem Leben und seinem Geist aus. Der Gottesname Emmanuel steht für einen Gott, der Leben spendet und nicht Leben nimmt. Dass wir dies nicht vergessen, wiederholt sich der Lobgesang aus Jesaja in der Großen Komplet des byzantinischen Ritus recht oft:

„Das Volk, das im Finstern wandelt: es sieht ein großes Licht, denn Gott ist mit uns.
Die wir im Schatten des Todes wohnen: ein Licht geht auf über uns, denn Gott ist mit uns.
Ein Kind ist uns geboren: ein Sohn ist uns geschenkt, denn Gott ist mit uns.
Die Herrschaft ist gelegt auf seinen Schultern, denn Gott ist mit uns.
Und sein Friede: er kennt keine Grenzen, denn Gott ist mit uns“.

Emmanuel ist unsere Hoffnung und das Heil der Völker. Er ist unser König und unser Gesetzesgeber, so die O-Antiphon vom 23.12. im römischen Ritus. Martin Luther dichtete in seiner deutschen Übertragung der Weihnachtssequenz: „Den aller Welt Kreis nie beschloss, der liegt in Marienschoß.“ Ihn, den aller Weltkreis, der Kosmos und die Himmel nicht zu fassen vermögen, ihn trägt die Mutter Gottes. Sie hält ihn gleichsam bereit für uns. Möge uns zum Weihnachtsfest ein Engel streifen, wie es Maria und Josef erleben durften vor der Geburt Jesu. Möge uns ein Engel daran erinnern, dass wir Gottes Ebenbilder sind. Vielleicht dürfen wir diese Erfahrung machen, wenn wir mit der heiligen Gottesgebärerin unsere Hände zu Gott erheben. Das wünsche ich Ihnen zum Weihnachtsfest und zum neuen Jahr.

Am Fest des heiligen Apostels Thomas 2022

Diakon Joachim Danz, Dipl.-Theol.

Liturgische Desorientierung als Symptom sinnentleerter Soteriologie

Eine adventliche Paränese von Professor Dr. Reinhard Thöle,
rezensiert von Pfarrer Dr. Dr. Daniel Gerte

Zur Bewältigung der gegenwärtigen Kirchenkrise können Transformation und Innovation zu einem möglichen Ausweg führen. Dabei werden theologische Gehalte vermittels methodischer Innovationen transformiert und auf diese Weise den zeitgenössischen Denk- und Sprachwelten angepasst. Der Zweck scheint die Mittel zu heiligen: Intendiert wird eine Christusbegegnung, die frei von historischen Altlasten und systematischen Korsetten dem alltäglichen Leben der Menschen gerecht werden kann. In seinem neuen Buch mahnt Reinhard Thöle eindringlich an, dass ebendies zu einer unmittelbaren Preisgabe und Überwindung der bewährten, erfüllenden Gehalte des christlichen Glaubens führt. Besonders im liturgischen Geschehen zeigt sich die Anverwandlung menschlicher Kategorien in einem dem traditionellen Verständnis nach von Gott gnadenhaft geschenkten, heilbringenden Vollzug. Was kann also eine Alternative sein?

Reinhard Thöle setzt sich für eine „mythopoetische Rebellion“ der Liturgie und somit für die Reintegration eines geläuterten Mythos-Begriffes ein. Dieser Ansatz mag an Karl Jaspers erinnern: Für Jaspers war der Mythos ein Medium der eingegrenzten, menschenmöglichen Entschlüsselung der Transzendenz in der Gestalt von Chiffren. Obwohl die Chiffre-Konzeption zu kritisieren ist, da sie letztlich in Beliebigkeiten mündet, setzte Jaspers das qualitativ Eine voraus und identifizierte Transzendenz mit Gott. Für ihn traf im Mythos die menschliche Existenz auf das ewige Sein, wenngleich die gegebene Distanz darin erhalten blieb. Mit Reinhard Thöle wäre zu überlegen, wie die „Wahrheit des Mythos“ (Kurt Hübner) eine speziell christlich verstandene Wahrheit des Mythos sein kann.

Mit Blick auf gottesdienstliche Entwicklungen ist zu fragen: Wozu ist Liturgie gut, wenn bei der Planung und Durchführung zunehmend und konsequent weltliche Maßstäbe angelegt werden? Das Anliegen des Buches ist zu begrüßen, denn die Lebenswirklichkeit der Menschen ernst zu nehmen bedeutet auch, entgegen manch liturgischen Verzerrungen eine Sphäre für das zu schaffen, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat (vgl. 1 Kor 2,9).

Prof. Dr. Reinhard Thöle:
Nullus Diabolus — nullus Redemptor.
Von Himmel und Hölle kirchlicher Milieus

Fromm Verlag 2022