Die Theosis, das Ziel des Lebens

Michelangelo: Die Erschaffung Adams (Detail), Sixtinische Kapelle, um 1510

Eine Fastenpredigt von Br. Josef Obl.OPR

„Rette dich selbst und auch uns“

Einer der Verbrecher, die neben ihm hingen, verhöhnte ihn: Bist du denn nicht der Christus? Dann rette dich selbst und auch uns! (Lk 23,39)

„Tja, das war’s dann wohl mit der Revolution in Israel”, dachte sich offenbar der spottende Mitgekreuzigte. „Dieser Messias ist endlich hingerichtet, die Römer sind immer noch die Herrscher und die Aussicht auf Auferstehung ist nicht glaubhaft. Das Evangelium ist eine fromme Geschichte und die daraus entstandene religiöse Bewegung keine Lösung für die Probleme dieser Welt, sondern eine Enttäuschung für die Menschen, die auf dieser Welt leben.“ So oder ähnlich muss sein Gedankengang gewesen sein.

Seit Anbeginn scheint der Mensch mit sich und seinem Umfeld unzufrieden zu sein. Die Sehnsucht nach Zufriedenheit war stets der Ansporn für räumliche und persönliche Entwicklung. Doch so sehr sich der Mensch auch weiterentwickelte, er sich zivilisierte, bildete und organisierte, so richtig zufrieden mit sich und seiner Umwelt ist er bis heute nicht. Die Sehnsucht nach dem neuen, besseren Menschen, meist geht sie einher mit der Vorstellung von einer anderen, besseren Gesellschaft, hat sich im Nachhinein immer als Utopie erwiesen.

Mal war der neue Mensch das Ziel der gesellschaftlichen Neuordnung, ein anderes Mal die neue Gesellschaft das Ziel der menschlichen Anstrengung. So herum oder anders herum, bislang sind derartige Pläne nie aufgegangen.

Warum nicht? Diese Frage wird von wiederum ganz weisen Menschen auf ähnliche Weise beantwortet: „Wenn du eine bessere Gesellschaft willst, dann fange bei dir selbst an“ Oder: „Sei du selbst die Veränderung, die du dir für diese Gesellschaft wünschst“ Aber, wo ist er denn nun, der neue Mensch, die perfekte Gesellschaft? Liegt es am mangelnden Willen oder am persönlichen Unvermögen, dass solche Weisheiten noch nicht zu paradiesischen Verhältnissen geführt haben? Was bleibt dir da anderes übrig, als dich selbst zu verwirklichen?

Eltern und Großeltern, Tante oder Onkel, Freunde, Lehrer, Ärzte, Psychologen, Heilpraktiker, Autoren, Coachs und Pastoren usw. …es gibt viele Menschen, die zu wissen glauben, was für dich das Beste ist. Und all diese „Wissenden“ sind sich zumeist einig darüber, dass es am besten ist, auf dich selbst zu hören, „in dich zu gehen, in dich hinein zu hören“, denn am meisten Zeit hast du mit dir selbst verbracht. Und deshalb bist du es, der dich am besten kennt. So wirst du also eines Morgens während des Zähneputzens in den Spiegel schauen und dir einen guten Vorsatz nehmen, der dein Leben verändern wird … ein Vorsatz der ebenso durch den Abfluss des Waschbeckens verschwinden wird, wie die tausend anderen guten Vorsätze.

Der Sozialismus, der Kommunismus, die Befreiungstheologie und andere gutgemeinte Ideologien sollten die Menschheit in ihrer Entwicklung weiter voranbringen und die Gesellschaft verbessern. Aber, gescheitert ist es bisher am Menschen oder an der Menschheit oder an der Gesellschaft oder, oder, oder. Der Mensch ist ein egoistischer Individualist, meinte Karl Marx – für diese Erkenntnis müssen wir ihm nicht dankbar sein, das erkennen wir ebenfalls wenn wir morgens in den Spiegel oder in die Geschichtsbücher schauen. So sind dann immer wieder in der Geschichte der Menschheit irgendwelche „Alphatiere“ aufgetaucht, die den Plan für die bessere Welt und den glücklichen Menschen „in der Tasche“ hatten.

Nun ist wieder so ein „Erlöser“ aufgetaucht. Oder sind es mehrere? Auf dem von Politikern und Prominenten frequentierten World Economic Forum (WEF) jedenfalls wird, so scheint es, eine neue Weltordnung anvisiert, die den Menschen glücklich, die Gesellschaft friedlich und die Erde gesund machen soll. Eine bessere Gesellschaft, zufriedene Menschen, eine bessere Welt — all das hat sich auch unsere Bundesregierung vorgenommen und fördert alles was aus ihrer Sicht dazu beiträgt, dass der Mensch endlich er/sie/queer zufrieden sein kann, nicht mehr von sich selbst entfremdet, sondern endlich ganz er selbst. Befreit auch von der Bevormundung durch — die Religion.

Vermeintlich schlaue Leute, Politiker usw. wollen alles, was sich aus ihrer Sicht nicht stimmig anfühlt, als unheilvoll anfühlt oder ankündigt, aus dem Wege schaffen. Das hört sich doch ganz o.k. an und klingt sogar nach einer religiösen Verheißung, wenn kirchliche Organisationen und Amtsträger die aktuelle Politik ausdrücklich dabei unterstützen. Irgendwie klingt das sogar so, als sei die Menschheit jetzt endlich auf dem richtigen Weg zur freien, selbständigen Schöpfung, auf dem Weg in eine auf beste Lebensverhältnisse begründete „neue Welt“. So scheuen sich etliche unserer Politiker und Meinungsbildner auch nicht, die Fernsehzuschauer, Internetnutzer und Zeitungsleser etc. durch große wohlklingende Worte zu berauschen… und kirchliche Vertreter wirken daran mit und versprechen teilweise sogar „Erlösung“ im Diesseits – in einer besseren Welt mit besseren Menschen.

„Ihr seid Götter!“

Unzählige Male ist mir dieser Ausspruch in den vergangenen Tagen begegnet und sogar als Bibelstelle genannt worden, teilweise mit einer haarsträubenden Exegese oder als Schlagwort ohne Kontext. Die Bibelstelle der dieser Ausruf entnommen ist, ist Psalm 82,6 … und es lohnt sich, den vorangehenden und den darauffolgenden Vers gleich mit zu betrachten:

Sie erkennen nicht, verstehen nichts, / sie wandeln umher in Finsternis. Alle Grundfesten der Erde wanken. Ich habe gesagt: Ihr seid Götter, ihr alle seid Söhne des Höchsten. Doch nun sollt ihr sterben wie Menschen.

Ps 82,5-7

Im Johannesevangelium (10,34) berichtet uns der heilige Verfasser, dass Jesus gegenüber den Hohenpriestern auf diesen Satz aus Psalm 82 verweist:

Jesus antwortete ihnen: »Steht nicht in eurem Gesetz geschrieben: ›Ich habe gesagt: Ihr seid Götter‹?« 

Joh 10,34

Und den Hohenpriestern ging es mit dieser Aussage nicht anders als uns heute — und so trifft auf den modernen Menschen der heutigen Zeit genau das zu, was der Psalmist in Ps 82,5 beschreibt: „Sie erkennen nicht, verstehen nichts.“

Wer die Verse Ps 82,6 oder Joh 10,34 isoliert für sich betrachtet und nicht im Gesamtkontext der Heiligen Schrift interpretiert, der kann in sie beliebig viel Unsinn hineinlesen — und diese Stellen zur Rechtfertigung von jeglicher Form der Selbstverwirklichung anbringen. Vor einer derartigen Interpretation der Heiligen Schrift hat bereits der heilige Kirchenvater Gregor von Nazianz eindringlich gewarnt. Der große Theologe der alten Kirche war es auch, der die Theosis, die Vergöttlichung des Menschen, als wahres Ziel des Menschenlebens benannte.

Die Theosis, das Ziel des Menschenlebens

Gleich zu Anfang der Heiligen Schrift wird uns das Ziel des menschlichen Daseins genannt, wenn es heisst, das Gott den Menschen schuf nach seinem Bilde und nach seiner Ähnlichkeit (Gen 1,27). Hier können wir schon die große Liebe erkennen, die der Schöpfer für den Menschen empfindet. Er will nicht, dass der Mensch lediglich ein Geschöpf neben unzähligen anderen Geschöpfen ist, er will, dass der Mensch Gott sei. Der heilige Gregor sagt: „Der Mensch ist das einzige Wesen, welches sich abhebt von der ganzen Schöpfung, denn von allen Wesen ist es einzig der Mensch, der Gott werden kann. So kann gesagt werden, dass der Mensch die Gottebenbildlichkeit besitzt und dazu berufen ist, die Gottähnlichkeit, die Vergöttlichung (griech. Theosis) anzustreben. Der Schöpfer ist Gott der Natur nach, und Er ruft den Menschen dazu auf, Gott der Gnade nach zu werden.

Die Vergöttlichung des Menschen beginnt mit seiner Schöpfung und vollendet sich in der Auferstehung nach dem Tod. Der Weg dort hin ist ein Prozess, ein Werden, Theosis genannt.

Wenn nicht der Herr das Haus baut …

Es geht wohl ganz vielen, ja den meisten (um nicht zu sagen, allen) Menschen so, dass sie mindestens einmal in ihrem Leben an einen Punkt kommen, an dem sie sich „bessern“, verändern oder selbst optimieren wollen und während dessen oder nach einer gewissen Zeit bemerken, dass es ihnen nicht wirklich gelingt. Ein spiritueller Mensch wird nicht ruhegeben, bis er gefunden hat wonach sein Herz sich sehnt. So ist er häufig rastlos umher getrieben, von einer Lehre und Erkenntnis zur nächsten Aussicht auf Heilung. „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir“ sagt der heilige Augustinus.

Dass aber der Mensch heutzutage nicht in der „altkirchlichen Anthropologie“ nach dem sucht, wonach sein Herz sich sehnt, das liegt weniger am Menschen selbst, als viel mehr an der modernen Kirche, die sich eher als Sozialverband sieht, statt die Aufgabe wahrzunehmen die ihr am dringendsten obliegt und ihre eigentliche Aufgabe ist, nämlich dem Menschen beizustehen, damit dieser erkennt, dass er aus eigener Kraft und Anstrengung nicht zu seiner Vergöttlichung in der Lage ist, sondern dazu der Gnade bedarf, die Christus ihm schenkt. „Wenn nicht der Herr das Haus baut, müht sich jeder umsonst der daran baut!“ (Ps 127,1)

Leere Kirchen dank leerer Worte

Dass der Sinn des Lebens die Vergöttlichung des Menschen ist, darüber herrscht leider nicht nur ausserhalb sondern auch innerhalb der Kirche Unwissenheit und mangelnde Eindeutigkeit. Viele Menschen sind der Auffassung, dass das Ziel des Menschenlebens die moralische Besserung sei, dass der Mensch ein besserer Mensch wird und dass an der Stelle an der er das nicht schafft, er froh sein kann, dass ihm durch Jesu Tod und Auferstehung die ewige Verdammnis erspart bleibt.

In manchen Kirchen genügt es ja schon, wenn man getauft ist. Alles andere sei Gnade, die man entweder hat oder eben nicht hat. Da dürfte es doch nicht wirklich jemanden wundern, dass die Kirchenbänke leer bleiben, die Menschen austreten oder zu Freikirchen wechseln oder sich anderen Sekten, Ideologien und Heilslehren zu wenden.

Wenn ein Geistlicher oder ein Gemeindemitglied dem spirituell suchenden „Heiden“ suggeriert, der Sinn der Kirche bestünde bloß darin, dass der Mensch besser wird als er ist — sittlicher, gerechter, enthaltsamer … Wen erstaunt es dann noch, wenn der Mensch — getreu dem Motto: „hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“ — außerhalb der Kirche und des christlichen Glaubens seine Verwirklichung und sein Heil sucht.

Die Kirche heutzutage ist nicht sehr vertrauenerweckend und scheint nach außen hin auch keine große Kompetenz auszustrahlen, was die Anthropologie betrifft. Das liegt aber nicht in erster Linie daran, dass die Kirche aufgrund von Skandalen und Struktur unglaubwürdig geworden ist, sondern daran, dass die Theosis in der westlichen Kirche und auch in den altkatholischen Kirchen nicht authentisch vorgelebt und somit auch nicht vermittelt wird. Skandale, Unglaubwürdigkeit und Kompetenzgerangel sind lediglich die Folge mangelnder Theosis innerhalb der Kirche(n).

Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben

Wenn wir alle Anthropologie, alle soziologischen, philosophischen und psychologischen Lehren und Systeme tatsächlich mit der Theosis vergleichen, werden wir sehr rasch feststellen, wie arm, unvollständig und unbefriedigend diese ganzen Angebote sind. Ausschließlich Jesus Christus ist in der Lage auf die tiefe Sehnsucht des Menschen zu antworten (vgl. Joh 14,6).

Da der Mensch „zum Gott berufen“ ist, er erschaffen wurde, um der Gnade nach vergöttlicht zu werden, empfindet er, solange er nicht auf dem Weg dahin ist, eine Leere, die ihn in Einsamkeit zurück lässt. Der moderne Mensch ist unfroh. Er lenkt sich ab, betäubt sich, schafft sich seine eigene phantastische Realität in einer armseligen, begrenzten, kleinen Welt, in die er sich zurück zieht und möglichst darin einschließt. Schließlich ist der Mensch ein Gefangener seiner selbst. Der Mensch ist ein Verdrängungskünstler, der mit Hilfe von betäubenden Leidenschaften, Ablenkungsmanövern, Süchten und Spannungen versucht zu vergessen, zu verbessern und zu lösen.

Eine Kirche, die den Menschen auf diesen Irrwegen bestärkt, hat selbst verdrängt, dass der Lebenssinn ausschließlich in der Vergöttlichung des Menschen liegt. Das ist das Höchste und wahrhaft Schöne, dass der Mensch eine solch innige Gemeinschaft erreichen, ja: gewissermaßen eins werden kann mit Gott!

Wenn du vollkommen sein willst …

Im Evangelium lesen wir: „Wenn du vollkommen sein willst … dann komm und folge mir nach!“ (Mt 19,21) Nachfolgen! Wie geht das? Was bedeutet das für mich? Es bedeutet, dass der Mensch begreifen muss, dass er geschaffen wurde um „in Adam“ zu sterben, damit er in Christus auferstehen kann. Sich seine Vergöttlichung vorzunehmen bedeutet, den ersten Schritt zu tun, sich seiner irdischen Vergänglichkeit bewusst zu werden. So wie es am Aschermittwoch heißt: „…und zum Staub kehrst du zurück“.

DER EINZIGE GRUND FÜR DIE MENSCHWERDUNG GOTTES IST DIE GOTTWERDUNG DES MENSCHEN. Das Aschenkreuz ist vor diesem Hintergrund ein zärtliches Zeichen der grenzenlosen Liebe Gottes! Somit müsste der Zuspruch bei der Spendung des Aschenkreuzes nicht lauten: „Fritz, …zu Staub kehrst Du zurück!“ sondern: „Fritz, es gibt keinen Menschen auf der Welt, den Christus mehr liebt als dich, darum komm und folge Ihm nach!“