Der Einzug Jesu ins Allerheiligste. Zur Karwoche 2019 — Teil 1

Abb. 1: Jesu Weg vom Ölberg nach Jerusalem

Durch welches Stadttor zog Jesus am Palmsonntag nach Jerusalem ein?
Eine vielleicht überraschende Frage, die weder oft gestellt noch erörtert wird. Dabei verrät die Antwort viel über das Selbstverständnis Jesu und darüber, als wer er in Jerusalem gekreuzigt werden und auferstehen wird.

Wenn Jesus in der Einzugserzählung als der Messias, der Gesalbte des Herrn, der Christus, hervorgehoben werden soll – so die Annahme dieses Beitrags –, dann ist er zugleich entsprechend der alttestamentlich-jüdischen Überlieferung als doppelgesichtige Gestalt anzusehen, insofern sowohl nach den konkreten politischen Erwartungen an ihn im Rahmen des wieder bzw. neu zu errichtenden davidischen Königtums als auch nach seinem religiösen Anspruch, der eng mit dem Tempel verbunden ist, zu fragen ist.

Dementsprechend wird dieser Beitrag mit einer Betrachtung der synoptischen Erzählungen des Einzugs Jesu nach Jerusalem samt der darauffolgenden Tempelreinigung, die beide gleichsam die Ouverture der Passionsgeschichte bilden, beginnen, wobei auf der markinischen bzw. vormarkinischen Erzähltradition das Hauptaugenmerk liegen wird (1.).

Der biblische Befund wird helfen, das Lokalkolorit zur Zeit Jesu genauer zu verstehen, damit speziell die aufgeworfene Frage nach dem sog. Goldenen Tor als dem konkreten Ort des Einzugs in Jerusalem entlang der modernen Archäologie eine Antwort finden kann (2.).

Die Antwort führt – wie bereits angeklungen – zurück zur Messiasgestalt mit ihren doppelten Erwartungen. Da die Judenchristen allerdings die Erwartung an ein politisches Königtum aufgaben oder umdeuten mussten, konnten sie sich auf die zweite Dimension, also auf die religiöse Verheißung, konzentrieren. Sie wird aus der Perspektive des Tempels und seinen Funktionen gedeutet werden (3.).

Schließlich stellt sich die Bedeutung des messianischen Einzugs Jesu in sein Heiligtum für uns Heutige auch als eine Frage nach dem Selbstverständnis von Religion, insofern Religion per definitionem streng mit der Frage nach dem angemessenen Umgang mit dem Heiligen und Allerheiligsten verbunden ist (4.).

1. Der Einzug in Jerusalem

Von den Evangelien, die den Einzug nach Jerusalem erzählen (Mt 21,1-9; Mk 11,1-10; Lk 19,28-40; Joh 12,12 -19) und – bei den Synoptikern unterbrochen durch Lk 19,41-44 (Jesus weint über Jerusalem) und die Verfluchung des Feigenbaums (Mk 11,12-14, während sie Mt 21,18-19 der Tempelreinigung nachordnet und Lk 13,6-9 sie in einen ganz anderen Kontext stellt) – unmittelbar mit der Tempelreinigung fortfahren (Mt 21,10-17; Mk 11,15-17; Lk 19,45-46), bietet Lk zwar die längste Version, doch darin auch nicht mehr an Informationen als das ältere Mk-Evangelium.
Folgen wir daher der Darstellung bei Mk in ihren Details.

1.1 … nach Markus

Nach Mk 11,1 steigt Jesus, von Betfage und Betanien her kommend, vom östlich gelegenen Ölberg hinunter nach Jerusalem und wird – so ist gemäß der dem Sachverhalt innewohnenden Logik anzunehmen – die Stadt auf der befestigten Straße aus Betanien durch das nächstgelegene Tor betreten haben.

Dies schränkt die Auswahl an Toren ein, zumal es viele Stadttore wie das Stephanustor (15. Jh.) und das Löwentor (1. Jh.), die der heutige Jerusalembesucher kennt, zu Jesu Zeit noch nicht gab.
Die aus der Offb 21,12 bekannte Vision vom himmlischen Jerusalem mit seinen zwölf Toren greift dagegen wohl auf Neh 3; 8,16 und 12,39 zurück und stammt aus einer Zeit, nachdem die Römer den Jerusalemer Tempel zerstört hatten (70 n. C.) und bevor sie die Mauern und Tore Jerusalems fast völlig schleiften, um aus der nun für Juden verbotenen Stadt ein Heerlager namens Colonia Aelia Capitolina zu machen (ab 130 bis 135 n. C.).

Doch schon vor den Römern erfuhr Jerusalem unter herodianischen König Agrippa I. (40-44 n. C.) eine derartige umfassende Umgestaltung durch Prunkbauten und eine gewaltige Stadterweiterung im Norden, dass ein Zeitgenosse Jesus sich dort danach kaum mehr zurecht gefunden haben dürfte.

Viele Tore wurden, wie gesagt, erst nach Jesu Tod gebaut. So unter Agrippa I. (40-44 n. C.) etwa im Westen ein Tor, das erst viel später den Namen Jaffator erhielt. Es wäre nun müßig, weitere Tore aufzuzählen, die zwar dem heutigen Jerusalembesucher bekannt sind, aber in den fernen Jahrhunderten nach Jesus unter römischer, byzantinischer, frühislamischer oder osmanischer Herrschaft erbaut wurden – nicht zu vergessen die Jahrzehnte, in denen die Kreuzfahrer in Jerusalem regierten.

Da zudem davon auszugehen ist, dass Jesus vom Ölberg über die Straße von Betanien kommend (vgl. Abb. 1 die rote Linie) eher eines der nächstgelegenen Stadttor durchschritten oder -ritten haben dürfte, engt dies die Auswahl weiterer ein.
Daher ist Küchler (101) überzeugt, dass Jesus durch das Osttor unweit der innerstädtischen Nordmauer des Tempels in die Stadt kam (in Abb. 1 Nr. 21a, deutlich in der kleineren rechten Abb. darin, fehlt ein solches Tor, da fraglich ist, ob sich die Stadtmauer dort schon unter Herodes oder erst unter Agrippa I. erstreckte).
Seit dem 15. Jh. trägt es auch den Namen Stephanustor, da es seitdem als Ort der Steinigung des aus der Apg 7 bekannten Diakons galt, was zuvor dem Damaskustor zugeschrieben wurde.
Dasselbe Tor wird aufgrund von dort zu sehenden Tierdarstellungen seit osmanischer Zeit bis heute auch Löwentor genannt, obwohl es sich nachweislich um Pantherfiguren handelt (Küchler 101).

Küchler schreibt darüber unter Verweis auf Mk 11,1.15: „Zur Zeit des 1. und 2. Tempels begann der Abstieg in das Kedrontal auf einem z. T. mit Stufen versehenen Sträßchen. Dies ist wohl der Weg, der in ntl. Zeit benutzt wurde, wenn man vom Ölberg her in die Stadt ging, wie dies in den Evv. oft von Jesus und seinen Jüngern erzählt wird (z. B. Mk 11,1.15 parr). Die typische sprachliche Doppelung »und sie gehen nach Jerusalem hinein. Und hineingehend in den Tempel …« (Mk 11,15) ist ein unbeabsichtigter Hinweis darauf, dass man zuerst den Bereich der Stadt und erst danach denjenigen des Tempels betrat“ (101).

Wäre Jesus also durch das Osttor in die Stadt gekommen, hätte er auf direktem Weg kurz danach links abbiegen und durch ein Tor in der Nordmauer des Tempelbezirks (s. Abb. 1 Nr. 21a) mit seinen erstaunlich gewaltigen Steinen (vgl. Mk 13,2 parr) zum strahlenden, weil mit massiven Goldplatten belegten Tempel aufsteigen können (vgl. die Darstellung bei Küchler 138 in Verbindung mit Plan A,1).

Doch „zur Zeit des Herodes“, so Küchler, „bestand hier nur ein einziges Tor, das sozusagen den Dienstzugang darstellte, weil man nur hier die Opfertiere und die für den Kult benötigten Materialien herbeischaffen konnte, ohne über Treppenaufgänge die z. T. beachtlichen Höhendifferenzen zu überwinden“ (205.207).
Was es den Durchgang jedoch im Grunde unmöglich macht, beschreibt Küchler selbst, denn „nach der Mischna Middot 1,3 »diente dieses Tor Todi im Norden zu gar nichts«, nach 1,9 verließen die durch Samenerguss unrein gewordenen Priester durch dieses Tor den heiligen Bezirk, um sich zu waschen“ (207).
Dieses Tor ist heute nicht mehr erhalten, alle vorhandenen Tore an der Nordseite des Haram (arabische Bezeichnung des Tempelbezirks) stammen aus früharabische Zeit (Küchler 207.223, Abb. 108; die Beschreibung dazu 306f.). Damit wird allerdings auch das Osttor als Einzugsgebiet Jesu unwahrscheinlicher.

Es gibt weitere Möglichkeiten, in den heiligen Bezirk zu gelangen. Zwei von ihnen befinden sich an seiner Südmauer: Das Zweier- oder Huldator mit seinen beiden durch eine Säule getrennten Eingängen; und das ein paar Meter weiter östlich gelegenen Dreiertor (zu beiden Toren: Küchler 174f., Abb. 88, und 291, Abb. 132,30).
Beide gehen auf herodianische Toranlagen zurück (Küchler 306). Das Huldator ist 12,8 m breit, das Dreiertor 15 m. Obwohl das Dreiertor mit seinem erhöhten mittleren Eingang würdiger wirkt, ist das Huldator geschichtsträchtiger. Denn hier soll nach 2 Kön 22,14 und 2 Chr 34,22 nicht bloß die Prophetin gelebt haben; auch der Prophet Mohammed soll vor seiner Nachtreise den Tempelplatz hierdurch betreten haben.
Zu diesen beiden Toren an der durch den Aufstieg über breite Treppen imposanten Südseiten, die gleichsam den Haupteingang ins Heiligtum darstellen, gelangt man aber erst innerhalb der Stadtmauern, so dass Jesus zunächst durch ein südöstliches oder südliches Tor die Stadt betreten haben müsste.

Schließlich gibt es noch das sog. Goldene Tor in der östlichen Stadtmauer (s. Abb. Nr. 21), die zugleich auch die östliche Begrenzung des Tempelbezirks bildet. Es liegt am Ende des Wegs aus Betanien und führt unmittelbar zum Tempelvorplatz, allerdings 50 m nördlicher als der Tempeleingang.

Der Neutestamentler Max Küchler, der bis 2012 im Schweizerischen Freiburg lehre, äußerte sich in seinem enorm gelehrten wie informativen über 1200-seitigen „Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt“, worin kaum ein historisch relevanter Stein in und um Jerusalem unerwähnt bleiben dürfte, auch zur Frage nach dem Ort des Einzugs Jesu.
Im Hinblick auf den in der Darstellung wirksamen Messianismus gibt Küchler mit Blick auf Mk 1,1-11.15-10 parr einen wichtigen Hinweis: „Diese messianisch durchwirkte Szene, die mit prophetisch-provokativen Zeichenhandlungen den Einzug Jesu in seine königliche Stadt und in sein Heiligtum erzählt […], hat in den Evangelien einen recht unterschiedlichen Ablauf“ (Küchler 197).
In drei Kolumnen stellt Küchler dann Mk 1,11, Mt 21,10-12 und Lk 19,45 vergleichend nebeneinander. Er kommt zu folgendem Schluss: „Die Evangelien geben offensichtlich keine topographisch auswertbaren Angaben: Jesus kommt bei Mk und Mt zuerst in die Stadt und geht erst danach in den Tempel (vgl. Joh 2,13; 5,1.14; → Betesda), betritt also mit der Stadt nicht gleichzeitig auch den Tempelplatz, wie dies beim Goldenen Tor der Fall wäre. Lukas macht diese Unterscheidung nicht. Keiner der Texte nennt ein Tempeltor. Die byz. Tradition vom Einzug Jesu durch das »Goldene Tor« wird somit von den ntl. Texten nicht gedeckt“ (Küchler 197).

Demgegenüber fällt Mehreres auf: 1. Nach Lk 19,45 betritt Jesus die Stadt durch den Tempel. Warum „unterschlägt“ Lk den Schlenker durch die Stadt?
2. Bei Mk wundert einen die innere Logik der Darstellung. So heißt es in Mk 11,1: „Als sie in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage und Betanien am Ölberg, schickte er zwei seiner Jünger aus“; die Jünger bekommen nun den Auftrag, ein Fohlen zu suchen und zu bringen (Mk 11,2-7).
3. Es macht stutzig, dass gemäß Mk 11,8-10 die Huldigungen durch Kleiderausbreiten, Wedeln mit Büscheln und Hosanna-Rufen vor dem eigentlichen Betreten der Stadt und offenbar kurz vor der Dämmerung erfolgen (Mk 11,11: „Und er zog nach Jerusalem hinein, in den Tempel; nachdem er sich alles angesehen hatte, ging er spät am Abend mit den Zwölf nach Betanien hinaus“).

In Mk 11,12 verlässt Jesus mit den Jüngern wieder Betanien – es folgt in Mk 11,13f. die Verfluchung des Feigenbaums –, um mit einer lapidaren Erwähnung in Mk 11,15 erneut, jedoch diesmal scheinbar unbeachtet, in Jerusalem einzuziehen und direkt den Tempel aufzusuchen: „Dann kamen sie nach Jerusalem. Jesus ging in den Tempel und begann, die Händler und Käufer aus dem Tempel hinauszutreiben“.
Nach der sog. Tempelreinigung verlässt Jesus mit den Jüngern zum zweiten Mal die Stadt (vgl. Mk 11,19), um sie nach der Episode mit dem Feigenbaum (Mk 11,20-25) zum dritten Mal, unspektakulär wie zuvor, für einen weiteren Tempelbesuch zu betreten. Mk 11,27f.: „Sie kamen wieder nach Jerusalem. Als er im Tempel umherging, kamen die Hohepriester, die Schriftgelehrte und die Ältesten zu ihm und fragten ihn […]“.

Um sich den gesamten Ablauf nochmals vor Augen zu halten, wie er nach Mk 11 gewesen sein soll: Vor dem ersten Betreten der Stadt erfolgt ein Massenandrang („viele“ nach Mk 11,8) samt Huldigungen, wonach Jesus in den Tempel geht, sich dort umschaut und nicht weiter tut; dann zieht er sich wieder ins 3 km entfernte Betanien (vgl. Küchler 920) zurück.
Bei einer zweiten Begehung der Stadt zieht Jesus erneut von Betanien aus – diesmal ohne Massenbeteiligung – in Jerusalem ein (Mk 11,12.15), um direkt im Tempel aufzuräumen; danach zieht er sich an einen nicht genannten Ort außerhalb der Stadt zurück (Mk 11,19).
Schließlich betritt er zum dritten Mal Jerusalem und zum zweiten Mal den Tempel, in dem er tags zuvor aufgefallen sein dürfte, um in alle Ruhe Fragen der jüdischen Autoritäten zu beantworten, die ihm Anlass geben, seinen messianischen Anspruch voll zu entfalten (Mk 11,27-12,44).

Abb. 2: Einzug Jesu in Jerusalem

Erklärungsbedürftig ist hier Vieles: 1. Warum empfangen die „vielen“ (Mk 11,8) „Leute“ (Mk 11,9) Jesus vor der Stadt – übrigens gemäß allen Evangelien – und nicht in ihr, wie es sich nicht nur viele Kinder am Palmsonntag entsprechend der verbreiteten Ikonographie vorstellen?
2. Warum zieht er vor der Dämmerung ein und schaut sich nur kurz im Tempel um, bis die Tempeltore mit Anbruch der Dämmerung geschlossen werden (vgl. Mk 11,1; vgl. Pesch 186)?
3. Warum betritt Jesus dreimal Jerusalem, jedoch unter nur einer einmaligen Euphorisierung der Massen, obgleich sich nach Mk 12,37b wieder „eine große Menschenmenge“ um ihn im Tempel versammelt?
4. Wie kann Jesus an einem Tag im Tempel randalieren und am nächsten Tag – offenbar ohne Hausverbot durch die Tempelmiliz – den Tempel wieder betreten, um dort in Ruhe die jüdischen Autoritäten zu erstaunen (Mk 12,17), zu verärgern (Mk 12,12) und sie das Fürchten zu lehren (Mk 11,32; 12,12b)?

Schon jetzt lässt sich erkennen, dass die Einzugserzählung einerseits ein tatsächlich mehrtägiges Wirken in der Stadt – vermutlich aus Absicht – an einem Punkt verdichtet; andererseits ist über Jesu mehrfaches Erscheinen und Wirken im Tempel, worauf ohne Zweifel ein Gewicht der Erzählung liegt, auch aus der Perspektive der Emotionslagen derart viel zu berichten, dass es Mk nicht im zeitlich eng gesteckten Rahmen eines Tages oder eher weniger Stunden erfassen kann.

1.2 … gemäß dem vormarkinischen Passionsbericht

Nach seinem triumphalen Einzug – offen bleibt noch, wo genau er die Stadt betreten hat –, wird Jesus zum Tempel gegangen sein, dies dem Zeugnis nach mehr als einmal. Er wird tatsächlich mehrfach in die Stadt gekommen sein, wohl von Betanien aus, denn „dass Jesus während seines Jerusalemer Aufenthaltes in Betanien sein Quartier hatte […], darf“ – Rudolf Peschs Kommentar zum MkEv zufolge (HThK NT II/2) – „als gesichertes Datum gelten“ (Pesch 187).
Pesch geht ferner davon aus, „dass mit dem mk Text [sc.: des Einzugs in Jesu in Jerusalem] die älteste Überlieferungsgestalt unserer Szene [sc.: innerhalb der vier Evangelien] vorliegt“ (Pesch 187). Dies muss für Pesch schon deshalb gelten, da seines Erachtens die mk Darstellung im Kern auf einem vormarkinischen Passionsbericht basiert, dessen Entstehung er vor dem Jahr 37 n. Chr ansetzt.
Denn die Erwähnung des amtierenden Hohepriesters ohne Namensnennung, „welcher der Voraussetzung lokaler Kenntnisse bei den Hörern der Passionsgeschichte entspricht, legt den Schluss (nahezu zwingend) nahe, dass Kajafas als Hohepriester noch amtierte, als die vormk Passionsgeschichte zunächst gebildet und erzählt wurde“ (vgl. dazu insgesamt Pesch 1-27, hier Pesch 21).
Zusammen mit der Beobachtung, dass der vormk Passionsbericht genau vertraut mit Orts- wie Personenangaben aus dem Umfeld Jerusalems ist, kommt Pesch zu dem erstaunlichen Schluss, seine Entstehung der Jerusalemer Urgemeinde zuzuschreiben: „Alters- und Herkunftsindizien sprechen zusammen eindeutig für eine frühe Entstehung der vormk Passionsgeschichte in der aramäisch sprechenden Urgemeinde in Jerusalem“ (Pesch 21).

In Bezug auf die Schilderung des Einzugs nach Jerusalem (Mk 11,1-10) stellt Pesch fest: „11,1 mit dem Ortsanschluss im temporalen Nebensatz […] ohne Nennung Jesu (erst in 11,6) setzt offenbar einen voraufgehenden Erzählkontext vom Zug Jesu und seiner Jünger nach Jerusalem (dem ,sieʻ sich nun nähern) voraus“ (Pesch 12).
Am Ende seiner Rekonstruktion meint Pesch, den Umfang dieser vormk Vorlage anhand von literarkritischen, gattungs- und formkritischen nebst inhaltlich-sachlichen Kriterien (vgl. Pesch 11) „höchstwahrscheinlich“ angeben zu können: Mk 8,27-33; 9,2-13.30-35; 10,1.32-34.46-52; 11,1-23.27-33; 12,1-17.34c-37.41-44; 13,1-2; 14,1 bis 16,8 (Pesch 12).

Damit mag die Antwort auf manche Inkohärenz und oben gestellte Frage an den Text sich aus den theologischen Erzählabsichten ergeben, aus deren Perspektive der vormk Passionsbericht der Jerusalemer Urgemeinde Jesus als Messias und Menschensohn charakterisiert und unterstreicht (vgl. Pesch 24f.). Es lohnt sich somit vom Standpunkt der synoptischen Einzugserzählungen, besonders in ihrer vormk Version, die überlieferte Messiaserwartung genauer zu betrachten, um zu prüfen, welche Verheißungen die ntl. Schriften insgesamt mit dem Einzug Jesu in sein Heiligtum erfüllt sahen.

2. Das Goldene Tor

Abb. 3: Das Goldene Tor (vorne mittig in der Stadtmauer oberhalb der Rampe), nach einem Modell von Jerusalem im Jahr 66 n. C. – vier Jahre vor der völligen Tempelzerstörung

Unter den vielen Elementen der mündlichen wie schriftlichen Überlieferungen der Messiasverheißung nimmt das bereits oben erwähnte Goldene Tor eine zentrale Stellung ein. Nach christlicher Überlieferung (Küchler 197, s. o.) zog Jesus hierdurch in Jerusalem ein – und damit direkt in den Tempelbezirk.
Diese Vorstellung basiert allerdings auf der alttestamentlichen Beschreibung nach Hesekiel 44,1-3, dergemäß der Messias durch ein Osttor unverzüglich auf den Tempelberg steigen und von ihm Besitz ergreifen wird. Doch machen weitere erzählerische Attribute das Bild des kommenden Messias erst vollkommen.

2.1 … durch das der Messias …

Zum Auf(t)ritt des Messias gehören ferner nach 1 Makk 13,51 und 2 Makk 14,4 unbedingt Palmenzweige als Zeichen eines siegreichen König. Als Friedenskönig kommt ein solcher Messias nach Sach 9,9 auf dem Fohlen einer Eselin. Diese messianischen Attribute finden sich dementsprechend auch bei Mk: das Fohlen in Mk 11,3-7 samt dem Schwingen von Büscheln (Mk 11,8) oder Zweigen (Mt 21,8), die nur nach Joh 12,14 als Palmzweige identifizierbar sind. Damit muss für schriftkundige Ohren nicht eigens ausgesprochen werden, dass die Erzählung in Jesus eben jenen Friedenskönig (vgl. Jes 2,4; Jes 11,6; Mich 4,3) sieht.

Auch Hosannarufe dürfen entsprechend Ps 118,25f. nicht fehlen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Abweichung von Mt gegenüber Mk, denn Mt 21,14f. bietet: „14 Im Tempel kamen Lahme und Blinde zu ihm und er heilte sie. 15 Als nun die Hohepriester und die Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder im Tempel rufen hörten: Hosanna dem Sohn Davids!, da wurden sie ärgerlich“.
Offensichtlich gab es – zumindest unter den Kindern – eine Kontinuität der Hosannarufer von den Menschen auf dem Weg (Mt 21,8f.; Mk 11,8f.) bis zu den Kindern im Tempel (Mt 21,15). Durch diese nahtlose jubilatorische Fortsetzung erzeugt Mt eine zeitliche Einheitlichkeit, die die für Mk 11,11b scheinbar wichtige abendliche Unterbrechung und Fortsetzung am nächsten Tag schlichtweg überspringt.

Warum werden hier überhaupt die Kinder als jubelnde Gefolgschaft herausgehoben erwähnt? Stehen sie wie „die Leute“ in Mt 21,9 für den klugen und weisen Teil des Volkes Israel – den Teil, der den Messias als Sohn Gottes erkennt und dafür nicht genug danken und loben kann (vgl. Ps 8,3: „Aus dem Mund der Kinder […] schaffst du dir Lob“)?
Dafür spricht auch die in Mt 21,14 genannte Gruppe von Lahmen und Blinden, die zu Jesus strömen, damit er sie heilt: Denn lahm und blind sind wir alle im Glauben, obwohl wir doch unbefangen sein sollten wie ein Kind, das Jesus uns, seinen Jüngern, später vor Augen stellt (vgl. Mk 9,36: „Und er stelle ein Kind in ihre Mitte“).

Abb. 4: Jesus vertreibt die Händler aus dem Tempel

Nach dem in dürren Versen beschriebenen eigentlichen Einzug (Mk 11,11a.15; Mt 21,10.12; fehlt bei Lk) – das Meiste der Beschreibung gilt den äußeren Umständen und Vorbereitungen davor – schließt sich unmittelbar die Reinigung des Tempels an (Mk 11,15-17; Mt 21,12-17). Auf sie als eigentliches Ziel des Einzugs scheint die ganze Perikope bei Mk und Mt hingeführt zu werden.
Dabei geht es weniger um die schlechten Eigenschaften oder überhaupt das Vorhandensein der „Verkäufer und Käufer, […] der Geldwechsler und […] der Taubenhändler“ (Mk 11,15) im Tempel – die Parallelstelle bei Joh weiß in 2,14 als einzige zusätzlich von „Händlern, die Rinder und Schafe […] verkauften“ zu berichten.
Schon gar nicht geht es nach Roger Liebis typologischer Exegese oder wohl eher – wie sein Rezensent Helge Stadelmann schreibt – Eis-egese (Hineinlesen) um „eine wichtige Belehrung“, nach der „wahres Glaubensleben […] das Alltägliche [sc.: dargestellt in den Händlerbuden] nicht vom Göttlichen [sc.: dargestellt im Tempel]“ abschneidet (doch lobt Stadelmann an Roger Liebis Dissertation u. a. seine plastische Schilderung der archäologischen Befunde und seine reichen judaistisches Quellenzitate).
Sondern die Tempelszene spitzt sich in Mk 11,17 zu: „Steht nicht geschrieben: Mein Haus soll ein Haus der Gebetes für alle Völker genannt werden? Ihr aber habt daraus eine Räuberhöhle gemacht (vgl. Jes 56,7; Jer 7,11)“.

Äußerst geschickt verbindet diese mit messianischer Erwartung geladene Stelle zweierlei miteinander: Die Erfüllung der Verheißung, dass der Messias alle Völker in Gestalt aller jüdischen Stämme einen wird (vgl. Jes 11,12; Jes 27,12f.) verschmilzt mit der weiteren Verheißung, nach der die ganze Menschheit zum Glauben an den einen Gott gelangt (vgl. Jes 11,9; Jes 40,5; Zef 3,9).
Dies alles ist am besten aus johanneischem Blickwinkel zu verstehen, insofern Joh der Tempelreinigung einen wichtigen begründenden Einschub für Jesu Vollmacht mitgibt, die zugleich als österliche Vorankündigung erfolgt: Denn nach Joh 12,18-22 wird der (neue) Tempel der Leib des Auferstandenen sein, der folglich auch Heiden, also Nicht-Juden wie Griechen, Römern und wirklich allen Völkern „offen steht“ und zugänglich ist.
Auf diese Weise erfüllt sich – zunächst zwar metaphorisch, doch mit Blick auf eine weltweite Kirche erstaunlich konkret – nebenbei die Verheißung von Mich 4,1 über den Wiederaufbau bzw. den Wiederherstellung des Tempels.

Im Gang der Erzählung sind die Folgen dieser geradezu prophetisch-messianischen Zeichenhandlung nach Mk 11,18 (NEH) dramatisch: „Die Hohepriester und Schriftgelehrten hörten davon und suchten nach eine Möglichkeit, ihn umzubringen. Denn sie fürchteten ihn, weil das Volk außer sich war vor Staunen über seine Lehre“.
Ab da nimmt das Verhängnis also seinen Lauf, die Passionsgeschichte beginnt oder, christlich formuliert, der Heilsplan G’ttes nimmt an Fahrt auf.

2.2 … in den Tempel einzieht

Doch harren – es ist in der Darstellungsfülle dieses kleinen messianischen Panoramas keineswegs untergegangen – hinsichtlich des Goldenen Tors noch zwei Fragen ihrer Beantwortung: 1. Gab es das Goldene Tor zur Zeit Jesu schon, noch oder wieder? 2. Wenn die Antwort bejaht wird, bleibt die Frage: Zog Jesus durch es nach Jerusalem ein?

Abb. 5: Das Goldene Tor heute, zugemauert und mit zwei Bögen

Zu Frage 1: Vom Ölberg kann der heutige Jerusalembesucher zwei zusammenhängende Torbögen über einem zugemauerten Tor erkennen. Dies ist das Goldene Tor, das in seiner Grundform aus byz. Zeit stammt, was nicht bedeutet, dass es nicht einen Vorgänger zu Zeiten Jesu hatte.
Unter den Omaijaden wurde es reich ornamentiert und mit einer 15 m langen Zugangsrampe zum Doppeltor, dem Tor des Erbarmens (Bab al-Rahama) und dem Tor des Umkehr (Bab al-Tawba), ausgestaltet. Spätestens seit dem 15. Jh. finden Jerusalempilger es verschlossen und zugemauert; möglicherweise „aus Sicherheitsgründen oder zur Vermeidung messianischer Aspirationen“ (Küchler 203).

Gab es dieses Tor also zur Zeit Jesu? Diese Frage ist schwer endgültig zu entscheiden. Denn es ist unklar, inwiefern das Goldene Tor mit anderen Toren in der Ostmauer identisch ist: Die rabbinische Tradition nennt in Verbindung mit fünf Toren des Tempelberges ein Osttor, das mit dem seltsamen Sühneritus der Verbrennung der roten Kuh nach Num 19, der insgesamt aber nur sieben Mal vollzogen wurde, in Verbindung gebracht wird. Weil auf oder über ihm die Burg Susa (vgl. Dan 8,2; Est 1,2-5), die Residenz der persischen Könige, abgebildet war, heißt dieses archäologische nicht weiter nachweisbare Tor auch Susator (Küchler 108).
Ferner gab ein in der östlichen Tempelmauer ein, an dem am Jom Kippur (Versöhnungstag) der Sündenbock vom Tempel aus in die Wüste getrieben wurde (hier ist Küchler, 140, mit seiner Beschreibung der Tempelfeste recht einsilbig)? Ist es mit dem Susator gleichzusetzen?
Oder hatte vielmehr das sog. Schaftor diese Funktion? Dieses wird nach Neh 3,1.32; 12,39 und Joh 5,2 jedoch als Nordtor der Stadt und nicht des Tempels bezeichnet (Küchler 100). Oder ist es das Tor der Musterung oder, je nach Übersetzung, der Zuteilung (Miphkad-Tor), das seit Neh 3,31 immer wieder – aber nicht von Küchler, sondern etwa von Liebi – erwähnt wird?

Zur Frage 2: Leider kann auch die Frage, ob Jesus durch das Goldene Tor – seine Existenz vorausgesetzt – oder überhaupt durch ein östliches Tempeltor nach Jerusalem nicht abschließend beantwortet werden. Weitere archäologischen Untersuchungen und Grabungen könnten hier möglicherweise Auskunft geben, doch sind sie derart nah am Haram unmöglich.
Allerdings vermögen auch andere Antwortversuche, wie gesehen, nicht völlig zu überzeugen. Aus seinem messianischen Selbstverständnis heraus betrachtet, spricht wiederum Vieles dafür.

Da dieser messianische Anspruch Jesu auch unabhängig von jedweder Antwort auf die Frage seines Einzugs in Jerusalem unangefochten besteht, liegt im Anschluss die Frage auf der Hand, wie das Wirken des Messias im Tempel wohl aussehen würde. Würde er den Tempelkult für überflüssig erklären oder ihn — gar als neuer Hohepriester — in einem dritten Tempel fortsetzen? Hierzu ist es sinnvoll, sich im nächsten Kapitel (3.) zu vergegenwärtigen, was denn einen Hohepriester seiner Herkunft, seiner Funktion und seinen Aufgaben nach ausmacht. (RB)

(Teil 2 folgt)

Zitierte Literatur:

Aland, Kurt (Hg.): Synopse der vier Evangelien. Griechisch-Deutsche Ausgabe der Synopsis Quattuor Evangeliorum, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1989.

Küchler, Max (Hg): Jerusalem. Ein Handbuch und Studienführer zur Heiligen Stadt (= Orte und Landschaften der Bibel IV,2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007.

Liebi, Robert: Der Messias im Tempel: Symbolik und Bedeutung des Zweiten Tempels im Licht des Neuen Testaments. Bielefeld: CLV, 2003 (= Dissertation).

Pesch, Rudolf: Das Markusevangelium. Zweiter Teil: Kommentar zu Kap. 8,27-16,20 (= HThK NT II/2), Freib. i. Br. et al.: Herder, 3. Aufl. 1984 (Sonderausgabe 2000).

Stadelmann, Helge: Rez. zu R. Liebi, in: JETh 24/2004, 357f., hier zitiert nach: https://www.betanien.de/buchbesprechung-der-messias-im-tempel/ (abgerufen am 12.04.19).