„O Weisheit … komm!“

Die erste O-Antiphon: aus einem dominikanischen Antiphonale, ca. 1300

An den letzten sieben Abenden des Advent (17.–23. Dezember) nimmt das tägliche Abendlob (Vesper) der Kirche eine besonders feierliche Form an. So wie sonst erklingt auch an diesen Abenden vor dem abschließenden Gebetsteil der Lobgesang der heiligen Maria (Magnificat, Lk 1,46–55). Doch wird hier die heilsgeschichtliche Bedeutung dieses biblischen Lobhymnus durch jeweils vorausgehende Gesänge (die sogenannten O-Antiphonen) in besonderer Weise entfaltet.

Die heilige Maria sang ihren Lobpreis nämlich als Antwort auf die Ankündigung des Erzengels Gabriel, dass sie zur Mutter des ihrem Volk verheißenen Messias werden würde. Ihr Lobgesang steht damit an der Schwelle vom Alten zum Neuen Bund und bezieht sich ausdrücklich auf die an das jüdische Volk bzw. die Nachkommenschaft Abrahams ergangenen Verheißungen (Lk 1,55). Die Liturgie der Kirche will uns in diese Haltung der gläubigen sehnsuchtsvollen Erwartung mit hinein nehmen (so wie auch die Liturgie des 4. Adventssonntags, z.B. schon durch die Introitus-Antiphon „Tauet, ihr Himmel, den Gerechten“, lateinisch Rorate caeli). Wie die Gläubigen des Alten Bunds, so sollen auch wir — gerade jetzt in den Tagen vor Weihnachten — unser Leben ausrichten auf die Erwartung der Ankunft des verheißenen Messias (Christus): des von Gott selbst eingesetzten gerechten, weisen und allmächtigen Königs, dessen Königtum kein Ende haben wird.

[Die sehnsuchtsvolle Erwartung des Messias als Erlöser des Gottesvolkes kommt an vielen Stellen des Alten Testaments zum Ausdruck. Einige besonders bedeutende dieser Schriftstellen wurden (spätestens) im 6. Jahrhundert in lateinischer Dichtung kombiniert; das Ergebnis sind sieben kurzen Gesänge (Antiphonen), die Eingang in die Adventsliturgie des alten römischen Ritus gefunden haben. Allen gemeinsam ist, dass sie zu Beginn den göttlichen Messias mit einem Titel anrufen, der ihm schon im Alten Testament beigelegt wird, und ein flehentliches „O“ vorausschicken. Deshalb sind sie unter dem Namen O-Antiphonen bekannt. Sie schließen jeweils mit der Bitte um das Kommen des verheißenen Messias und um einen bestimmten Aspekt der Erlösung.]

Beispielsweise wird am 17. Dezember Christus angerufen als göttliches Wort der Weisheit (vgl. Spr 8): O Sapientia, quae ex ore Altimissi prodisti, zu deutsch: „O Weisheit, die Du aus dem Munde des Höchsten hervorgegangen bist“. Nach weiteren poetischen Beschreibungen der göttlichen Weisheit gipfelt der Gesang in der Bitte veni ad docendum nos viam prudentiae — „komm, um uns den Weg (wirklicher) Klugheit zu lehren“. Gemeint ist hier eine Klugheit, die unser Leben als Gabe Gottes versteht, für die wir einst bei der Wiederkunft des Herrn Rechenschaft ablegen müssen; wirkliche Weisheit und wahre Einsicht wurzeln deshalb in der Ehrfurcht vor Gott (Spr 1,7; 9,10).

[In dem spätlateinischen (mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen) Hymnus Veni, veni Emmanuel sind einige der O-Antiphonen noch einmal etwas kürzer und auf einen Endreim zusammengefasst worden. Dieser Hymnus ist auch, jeweils unter dem Titel „O komm, o komm, Immanuel“ in verschiedenen Fassungen ins Deutsche übertragen worden (z.B. von Heinrich Bone 1847 und Köln 1852).]

Das Mit-Singen und -Beten der sieben O-Antiphonen will uns mit hinein nehmen in die sehnsuchtsvolle Erwartung der Ankunft und Wiederkunft des göttlichen Erlösers. Dies ist eine Erwartung, die das Volk Gottes seit jeher auszeichnet, aber aufgrund des ersten Kommens Christi in diese Welt, das wir an Weihnachten feiern, ein bleibendes Unterpfand hat. Wenn wir eintauchen in diese Erwartung und davon unser Leben aufs Neue prägen lassen, wird das diesjährige Christfest, allen Widrigkeiten zum Trotz, für uns wirklich zur „heiligen Nacht“. Ja, dann wird (vgl. Gal 4,19) an Weihnachten Christus auch in uns geboren!