„Freue dich, Morgenglanz des nicht untergehenden göttlichen Lichtes, die du uns bescheinst!“
Ein Beitrag zum Weihnachtsfest von Joachim Danz
Lieber Leser!
„Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt?“
Wer war Jesus? Wer ist Jesus für mich? Die Alte Kirche hat lange über diese Frage nachgedacht und auch gestritten. Konzilien fanden gute, kurze und prägnante Formeln. Das Konzil von Ephesos definierte 431: „Die heilige Jungfrau ist Gottesgebärerin.“ Das Konzil von Chalzedon formulierte 451, darin das Konzil von Ephesos bestätigend: Jesus ist „wahrer Gott und wahrer Mensch.“ Die Diskussion um Jesus Christus war deshalb jedoch noch lange nicht beendet. Der Bilderstreit in Byzanz reichte bis in das 9. Jahrhundert. Er kreiste unter anderem um eben diese Frage.
Eine neue Theorie zur Person Jesu lautet: Maria wurde von einem römischen Soldaten vergewaltigt und Jesus hat erst in späteren Jahren seine Gottessohnschaft erkannt. Begründet wird dies mit dem Stammbaum nach dem Matthäusevangelium, näher hin mit den dort genannten Frauen. (Mt 1) Auch der Bericht der Ehebrecherin aus dem Johannesevangelium wird angeführt (Joh 8). Menschwerdung Gottes durch Gewalt einer Besatzungsmacht? Ich frage mich, wie und ob dies zusammenpasst.
Bereits Lew Tolstoj (1828–1910) sprach den Evangelien jedwede Inspiration ab. Und der letzte russische Gesandtschaftsgeistliche der russischen Botschaft in Berlin vor dem ersten Weltkrieg, Propst Alexios von Maltzew, stellte fest, Tolstoj und gewisse Altkatholiken seiner Zeit stimmten in der Ablehnung der Evangelien überein. Es ging um einen Zeitungsartikel im „Deutschen Merkur“ vom 1. März 1901, wonach nur das älteste Evangelium, das Markusevangelium, authentisch sei.
Nun, wir wollen uns an die Konzilien und Evangelien halten. Die Ikone „Heile meinen Schmerz“ will uns ebenfalls an die Menschwerdung des Gottessohnes erinnern. Zunächst zur Ikone selbst.
„Euch ist der Retter geboren“
Der Grund aller Verehrung der Gottesmutter ist der Titel Gottesgebärerin des oben erwähnten Konzils von Ephesos. Bis auf wenige thematische Ausnahmen sehen wir Maria deshalb immer mit dem Jesuskind. Auf unserer Ikone ruht es an ihrer Schulter. Mit ihrer linken Hand umfasst sie es.
„Ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr.“ (Lk 2,10f.)
An Marias Seite sehen wir unseren Herrn und Retter, den Gesalbten Gottes. Es hat sich erfüllt, was der Prophet Jesaja verheißen hat: „Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären und seinen Namen Emmanuel nennen.“ (Jes 7,14) Es hat sich erfüllt, was der Erzengel Gabriel Maria erklärte: „Siehe, du wirst empfangen und einen Sohn gebären und seinen Namen Jesus nennen.“ (Lk 1,31) Das Kind hält ein Schriftband mit der Aufschrift:
„Richtet recht und ein jeder erweise seinem Bruder Güte und Barmherzigkeit, und tut nicht Unrecht den Witwen, Waisen, Fremdlingen und Armen, und denke keiner gegen seinen Bruder etwas Arges in einem Herzen!“ (Sach 7,9)
Zumindest die Anfangsworte sind auf der Schriftrolle zu lesen. Man kann sie auch übersetzen: „Urteile nach Gerechtigkeit, handelt mit Erbarmen und Großmut.“
Der Prophet Sacharja verkündet uns Gottes Wort. Es ist Gottes Antwort auf menschliches Versagen. Adam und Eva waren ungehorsam geworden gegenüber Gott. Auch wir versagen oft. Der Schöpfergott sagt uns, was wir tun müssen. Wir lesen es auf der Ikone: „Tut nicht Unrecht…“ Wir sehen auf der Ikone seine menschenliebende Herablassung in Jesus Christus. Er wendet sich uns zu, wenn wir zu ihm beten. Die Ikone ist Ikone des fleischgewordenen Wortes und Ikone des Karfreitags zugleich. Es geht um Menschwerdung und Erlösung in Jesus. In ihm ist uns machtvoll das Heil aufgerichtet. (vgl. Lk 1,69)
„Deine eigene Seele wird ein Schwert durchdringen…“
Der Titel der Ikone ist dem Morgengebet vom Montag im 5. Ton entnommen.
„Tilge den Schmerz meiner vielseufzenden Seele,
die du tilgst jegliche Träne vom Antlitz der Erde.
Denn der Sterblichen Betrübnisse vertreibst du,
der Sünder Niedergeschlagenheit zerstörst du.
Dich haben wir alle erworben, zur Hoffnung und Stütze,
Allheilige Mutterjungfrau.“
Die Mutter Gottes vermag Seelenschmerz zu heilen, denn sie hat selbst Schmerzen erfahren. Sie lädt uns ein, uns zu freuen, denn Trübsal und Niedergeschlagenheit nimmt sie hinweg. Sie ist uns Hoffnung und Stütze. Von Hoffnung auf den Messias waren die Hirten in Betlehem erfüllt, ansonsten hätten sie sich kaum auf den Weg gemacht, noch dazu inmitten der Nacht. Das Gewand der Gottesmutter entspricht dem Farbkanon der Ikonographie. Das Untergewand ist blau und steht für die Menschheit. Doch der Sohn Gottes kam, um uns nach Hause in das Paradies zuführen. Er trägt auf Christusikonen ein rotes Untergewand. Uns bekleidet er mit neuem göttlichen Leben. Maria durfte dies als seine Mutter zuerst erfahren. Dafür steht die rote Farbe ihres Obergewandes. Das dem Rot beigemischte Braun unterstreicht noch einmal das Chthonische, das Erdhafte. Im Saum ihres Gewandes strahlt helles rot. Freude leuchtet auf. Freude, die Schmerz heilt. Die Ikone „Heile meinen Schmerz“ lädt uns ein Schmerz und Leid zu ihr zu bringen und vor sie zu tragen. Heilung, Freude und neue Hoffnung finden wir. „Die Hirten lobten und priesen Gott für all das, was sie gehört und gesehen hatten.“ Die Ikone will uns helfen mit Maria zu beten: „Hochpreiset meine Seele den Herrn und mein Geist frohlockt über Gott meinen Heiland.“ (Lk 1,46f.)
Eine der Randfiguren der Ikone ist der Engel Gabriel. Er rief ihr das „Freue dich“ zu. Auch so kann der Gruß übersetzt werden. Unter ihm sehen wir den bekannten Heiligen des Advents, Nikolaus. Auf der anderen Seite steht die heiligen Paraskevi. Sie erinnert an das Leiden des Herrn und den heiligen Seraphim von Sarow, der die Mutter Gottes sehr verehrte und dem sie des Öfteren erschienen ist. Gerade bei russischen Ikonen sind Randfiguren beliebt.
Das Haupt der Mutter Gottes ruht auf ihrer Hand. Sie scheint zu überlegen. Sie denkt nach. Sie betrachtet das zukünftige Leiden Jesu. Sie fühlt das Schwert im Herzen. (Vgl. Lk 2,35)
„Steh auf und wandle!“ (Mt 9,6 parr.)
Die Legende der Ikone berichtet von einer namenlosen Frau, die viel Leid erfahren hatte. Sie war gelähmt. Alle Glieder schmerzten ihr, vor allem die Beine. Sie konnte nicht mehr gehen. Im Traum sieht sie die Ikone „Heile meinen Schmerz“ und hört eine Stimme: Geh nach Moskau in die Kirche des heiligen Nikolaus im Pupyschewo-Viertel und bete vor dieser Ikone. Du wirst Heilung empfangen.“ Aus der fernen Provinz Orlow bringen Verwandte die Kranke in eben diese Kirche. Doch die geschaute Ikone findet sich nicht. Als alte Ikonen aus dem Turm gebracht werden, schreit die Kranke auf: „Sie ist es“. Lange war sie so kraftlos, dass sie nicht mehr gesprochen hatte. Nach dem Bittgottesdienst verlässt sie völlig eigenständig die Kirche. Dies geschah am 25. Januar 1760.
Die Kranke hat erfahren, was der Gelähmte im Evangelium erfahren hat. “Jener erhob sich und ging nach Haus.“ (Mt 9,7) Krankheit und Schmerz sind nicht das Ziel unseres Lebens, sondern Leben in Gott. „Eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden.“ (Joh 16,20) „Der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei noch Schmerz…“ (Offb 21,4). Gott setzt in der Menschwerdung seines Sohnes einen neuen Anfang für uns wie er der gelähmten Frau neues Leben schenkte. Der Name Jesus steht dafür, dass er sein Volk retten wird von seinen Sünden. (Vgl. Mt 1,21) Die Ikone will daran erinnern.
„Morgenglanz des göttlichen Lichtes“
Zu Ehren der Ikone wurde ein eigener Akathistos-Hymnus gedichtet. Wir wiederholen den Gruß, das „Freue dich“ des Engels und lobpreisen die Gottesmutter. Einige Verse grüßen die Ikone:
„Freue dich, du des ewigen Sohnes Wohnung.
Freue dich, die du zum Himmel emporführst, die Glauben und Liebe zu dir haben.
Freue dich, du du auf deiner Hand das unberührbare Licht trägst, durch welches unsere Seelen erleuchtet werden.
Freue dich, die du den Anfang der menschlichen Errettung erbautest.“
Die Menschwerdung des Gottessohnes wird gepriesen. Am Mittwoch und Freitag wird im Stundengebet das Theotokion (Hymnus an die Gottesmutter) durch das Stavro-Theotokion ersetzt, durch welches uns die Kreuzigung und das Leid der Mutter Gottes vor Augen gestellt werden.
„Als den sterbenden Christus erblickte die allreine Gebieterin… besang sie ihn unter Tränen als Gebieter, der war aus ihrem Mutterschoß hervorgegangen…!“ (Stavro-Theotokion vom 19.12.)
Am deutlichsten wird dies im Morgengebet des Karsamstags, wenn die Marienklage gesungen wird.
„Als die Mutter des Lammes sah, wie ihr Lamm geschlachtet wurde, weinte, sie, wie von Speerspitzen getroffen…“ (Stasis 1) oder „Wehe, erfüllt ist die Weissagung Simeons: denn ein Schwert durchdrang mein Herz.“
Es geht bei der Ikone „Heile meinen Schmerz“ wie bei jeder Ikone der Gottesgebärerin um die Menschwerdung und den Kreuzestod Jesu. Mag die Beziehung zwischen Mutter und Kind noch so innig sein, ein Mutter-Kind-Idyll will uns die Ikone nicht vor Augen führen. Der Sohn Gottes kommt in unsere Welt. Die Sünde Adams, die Vertreibung aus dem Paradies, Krankheit, Leid und Tod sind nicht das letzte Wort Gottes. Wer sich dem Lebensspender Christus zuwendet, findet neues Leben.
Daran will uns die Ikone erinnern. Neue Hinwendung zum fleischgewordenen Wort wünsche ich Ihnen zum Weihnachtsfest.
Literatur
Goltz, H.: „‚Tilge meine Schmerzen‘. Zum biblisch-theologischen Spannungsbogen des russischen Gottesmutterbildes“. In: Udo Schnelle (Hrsg.), Reformation und Neuzeit. Berlin 1994
Kassing, Karl Josef: Mirjam. Die Mutter Jeschuas. Köln 2021
Maltzew, Alexios von: Menologion, II. Berlin 1901
Tradigo, Alfredo: Ikonen. Berlin 2005